
Wie entsteht Vertrauen, wenn der Druck am höchsten ist?
Von: Henrik Lehnhardt
Expertenprofil von Henrik Lehnhardt anzeigenVeränderung gilt gern als großer Brocken, dem man mit strikten Plänen und mächtigen Methoden zu Leibe rücken muss. Doch in Wahrheit liegt der Schlüssel zum nachhaltigen Wandel in einem einfachen Satz, einer gut gewählten Geste – oder sogar in einem Glas Wein.
Ich erinnere mich an einen Abend im Juni 2020, der mich gelehrt hat, wie Vertrauen entsteht, wenn scheinbar nichts mehr möglich ist. Es war nach einem Rhetorikseminar, während einer dieser frühen Sommernächte nach dem ersten Lockdown. Ich saß auf der Terrasse eines Hotels in Hersbruck, gegenüber ein Mann, mit dem ich seit drei Jahren in einem Millionenstreit lag. Wir hatten uns in diesem Seminar zufällig als Trainingspartner wiedergefunden – ohne zu wissen, mit wem wir es zu tun hatten. Drei Tage lang übten wir, sprachen über Haltung, über schwierige Gespräche. Und dann, beim Blick auf das Nummernschild meines Autos, traf ihn die Erkenntnis: „Henrik, das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“ Er griff in seine Tasche, holte die Klageschrift hervor. Meine Unterschrift. Sein Unternehmen. Unser Konflikt.
Was danach geschah, hätte kein Anwalt je vermitteln können. Wir sprachen. Offen. Ohne Agenda. Nur als Menschen. Bei einem Glas Spätburgunder. Und dieses Gespräch veränderte alles. Kein juristischer Winkelzug hatte uns dahin gebracht. Es war das Zuhören, das Ernstnehmen, das Loslassen der Rollen. In dieser Nacht wurde klar: Vertrauen entsteht nicht im Vertrag. Es entsteht im Moment.
Zwischen Resignation und Aufbruch: Warum Change mehr Dialog als Durchmarsch braucht
Dass 72 % aller Change-Prozesse scheitern, hat Gründe. Oft sind es zu viel Druck und zu wenig Vision. Führungskräfte wollen durchziehen, statt durchdringen. Mitarbeitende werden informiert – aber nicht einbezogen. Dabei ist es der Dialog, der Orientierung gibt. Wer Menschen dort abholt, wo sie stehen, wer die Change-Kurve kennt – vom Schock über die Ablehnung bis hin zur Erneuerung – der kann gezielt begleiten.
Wir brauchen Brückenbauer, die das Tal der Resignation abflachen. Die kleine Siege sichtbar machen. Die nicht auf Heldenreisen setzen, sondern auf echte Schritte. Und auf die Kraft einer Vision, die trägt. Denn nur wenn Mitarbeitende wissen, warum sie sich verändern sollen, entsteht der Wille zur Bewegung.
Die Gallup-Zahlen sind ernüchternd: Nur 9 % der Beschäftigten fühlen sich ihrem Unternehmen wirklich verbunden. 78 % machen nur noch „Dienst nach Vorschrift“, 13 % haben innerlich gekündigt. Wer so tut, als sei das allein ein Motivationsproblem, irrt. Es ist ein Führungsproblem – und ein Kulturproblem. Wer jedoch jedem Mitarbeitenden zeigen kann, welchen Beitrag er zum großen Ganzen leistet – das berühmte Zahnrädchen im System – der schafft Commitment. Und das ist mehr wert als jedes Maßnahmenpaket.
Die neue Führungsformel: Haltung, Timing und der Mut zur Menschlichkeit
In einer Welt, die sich von VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) zu BANI gewandelt hat (Brüchig, Ängstlich, Nichtlinear, Unverständlich), brauchen wir neue Führung. Keine, die auf alles eine Antwort hat – sondern eine, die kluge Fragen stellt. Eine, die nicht Kontrolle sucht, sondern Vertrauen baut.
Die fünf Kernaufgaben moderner Führung sind klar: Ideen entwickeln, gute Kommunikation gestalten, Agreement schaffen, Menschen befähigen und konsequent handeln. Doch genau das wird oft unter Druck vergessen. Stattdessen erleben wir passive Führung, übersehene Widerstände, fehlende Einbindung – und am Ende wird Veränderung nicht umgesetzt, sondern ausgesessen.
Dabei gilt: “The time to repair the roof is when the sun is shining.” (John F. Kennedy). Wir müssen frühzeitig handeln – nicht erst dann, wenn das Haus brennt. Veränderung braucht Vorbereitung, eine Strategie mit Augenmaß – und vor allem: eine klare Haltung.
Denn wie Viktor Frankl sagte: „Wer ein Warum hat, erträgt jedes Wie.“ Das Warum ist der Nordstern. Wenn dieser klar ist, richten sich Menschen neu aus. Ohne ihn bleibt jede Veränderung ein Strohfeuer.
Deshalb: STOP. LOOK. CHANGE. Innehalten. Beobachten. Anpassen. Und vor allem: Wahrnehmen. Denn „Perception is everything“. Wahrnehmung entscheidet, ob wir eine Chance erkennen – oder eine Bedrohung sehen.
Vertrauen entsteht nicht im Prozess, sondern im Moment
Echte Veränderung beginnt nicht im Projektplan, sondern im Gespräch. In einem Moment der Offenheit, des Verstehens. Dabei helfen keine Zeitschriftenartikel oder Change-Charts. Es hilft die Fähigkeit, zuzuhören. Die Offenheit, sich irritieren zu lassen. Die Neugier, sich selbst in Frage zu stellen.
Wir brauchen eine Kultur der respektvollen Kommunikation, die Gespräche in der Zukunftsform führt. Nicht im Rückblick, nicht in der Schuldfrage – sondern im „Was jetzt?“. Wir müssen lernen, uns ehrlich zu entschuldigen, und dazu gehört mehr als ein „Sorry“. Es braucht drei Schritte: Reue, Empathie und eine Vereinbarung für die Zukunft. Nur dann kann sich Vertrauen wieder aufbauen.
Auch der Umgang mit Widerständen ist entscheidend: Früh erkennen, transparent machen, Teams einbinden, Informationsnetzwerke schaffen und einen Plan B in der Tasche haben. Wer Menschen ernst nimmt, begegnet Ängsten mit Sicherheit – nicht mit Floskeln.
Denn: Wer Bedürfnisse statt Positionen versteht, hat den Schlüssel zur Lösung bereits in der Hand. Und dieser Schlüssel öffnet Türen, wo vorher nur Mauern standen.
Was es dafür braucht? Timing. Atmosphäre. Haltung. Und manchmal einfach ein Glas Wein. Kein Symbol der Leichtigkeit, sondern der Entschleunigung. Eine Einladung zur Begegnung.
Führung beginnt nicht bei anderen – sie beginnt bei dir
Führung ist heute mehr als Management. Sie ist Beziehung. Sie ist Vorbild. Sie beginnt, wie Albert Schweitzer sagt, nicht mit Methoden, sondern mit dem eigenen Beispiel:
„Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen – es ist die Einzige.“
Wenn wir diese Haltung kultivieren, entsteht Vertrauen. Selbst – oder gerade – dann, wenn der Druck am höchsten ist. Denn dann zählt nicht, wer am lautesten ist. Sondern wer bereit ist, still zu werden. Hinzuhören. Und das Gespräch zu führen, das lange überfällig ist.